Theoriekultur - Wiki
Unsichtbare Intelligenz / Beiträge /
Karl Reitter

 
Warum wir alle ProletarierInnen werden und was dies bedeutet

Karl Reitter

Ein wenige Provokation ist klarerweise mit diesem Titel ausgesprochen. Proletarier, gibt es die überhaupt noch? Und wenn, so scheint dieser Typus zumindest hierzulande im Verschwinden begriffen zu sein. Egal ob wir von ProletarierInnen oder gar von ArbeiterInnenklasse sprechen; der Blick scheint mit Notwendigkeit in die Vergangenheit gerichtet. Sowohl im weit verbreiteten Alltagsverständnis, als durchaus auch in den hehren Gefilden der bürgerlichen Wissenschaft, die oftmals triviale Auffassungen nur mit dem Mantel des wissenschaftlichen Habitus bekleiden, wird Proletarier mit einem bestimmten, empirisch und soziologisch beschreibbaren Typus von Menschen gleichgesetzt: Proletarier pflegen an Maschinen zu arbeiten, tragen Schwielen an den Händen und praktizieren eine bestimmte Art des Weltumganges. In ihrer Frühzeit bekannten sie sich zu Gewerkschaft und Sozialdemokratie, manche sangen auch die Internationale. Jetzt ist ihr Verschwinden angesagt und politisch ist ihre Art der Weltanschauung so und so ein Auslaufposten. Diese These gibt in allen Varianten, etwas grob geschnitzt im Alltagsdiskurs, feiner im wissenschaftlichen und selbst so manche linke TheoretikerInnen verkünden diese Thesen mit großer Geste. Proletariat ade!?

Das Gegenteil ist der Fall. Um das zu erkennen müssen wir in Relationen denken. Das Proletariat kann nicht isoliert, nicht aus sich begriffen werden. Genau dies tut aber der triviale Diskurs. Das Proletariat wird mit bestimmten sinnlich erfahrbaren und empirisch darstellbaren Merkmalen identifiziert. Wenn diese Merkmale auf immer weniger Menschen zutreffen, so muss das Proletariat im Verschwinden sein, so der Fehlschluss. Wenn wir allerdings in Relationen denken und mit Marx das Proletariat als den einen Pol eines sozialen Verhältnisses erkennen, dann ist seine Identifikation mit einer bestimmten „sinnlichen Gewissheit“1 unzulässig. Tatsächlich hat das Proletariat in der Geschichte des Kapitalismus schon viele Gestalten angenommen, periodisch kommen neue hinzu, andere verschwinden. Der Bogen reicht von den Manufakturarbeitern, den vom Lande Vertriebenen während der ursprünglichen Akkumulation in England, den MassenarbeiterInnen des Hochfordismus, den chinesischen WanderarbeiterInnen heute bis hin zu den neuen Selbständigen in den westlichen Zentren. Das Proletariat war niemals homogen, welches Kriterium wir auch annehmen, sei es Geschlecht, Bildung, Aufenthaltstatus usw., immer zeigte es sich in vielen Facetten. Das Proletariat mit der männlichen, einheimischen Industriearbeiterschaft gleichzusetzen ist nicht nur falsch, sondern auch borniert. Selbst empirisch zeigte sich das Proletariat niemals bloß in einer einzigen homogenen Gestalt.

Analytisch ist das Proletariat ein Pol des Kapitalverhältnisses. Es ist die reine Arbeitskraft, das reine Arbeitsvermögen, welches vom Kapital gekauft, trivial gesprochen, beschäftigt wird. Aus dem anderen Pol steht das Kapital, das heißt die BesitzerInnen von Geld und Produktionsmitteln. Der eine Pol kann nicht ohne den anderen sein. Zu behaupten, das Proletariat verschwände, der Kapitalismus bliebe aber bestehen, zeugt bloß von tiefem Unverständnis und der Unfähigkeit, analytisch zu denken.

Mit der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft ändert sich auch die Physiognomie des Proletariats. Gegenwärtig hat es hierzulande immer weniger mir der Industriearbeiterschaft der 60er und 70er Jahre zu tun. Zugleich weitet sich aber das soziale Verhältnis selbst immer mehr aus. Grade in den neuen prekären Arbeitsformen, aber durch die so genante Scheinselbständigkeit werden zusätzliche Schichten dem Klassenverhältnis unterworfen. Auch bei diesem Thema dürfen wir uns nicht von der Erscheinungsform blenden lassen. Das Klassenverhältnis erfordert nicht unbedingt ein formales Arbeitsverhältnis, es kann auch reine Stücklohnform annehmen. Der Stücklohn war überdies am Beginn des Kapitalismus eine weit verbreitete Art der Entlohnung und ironischerweise kehrt aktuell so manche Frühform wieder. Bei dem „Stück“ handelt es sich gegenwärtig oftmals um eine komplexere Arbeit, z.B. um die Programmierung einer Webseite oder um bestimmte Transportleistungen. Sicher sind da die Grenzen nicht scharf abzustecken. Zahlreiche Studien über die reale Lebenssituation zeigen aber, dass diese neuen Scheinselbständigen wenig bis gar nichts mit der Situation des klassischen Kleinbürgertums, etwa dem Arzt oder dem Rechtsanwalt zu tun haben, der ebenfalls seine Leistung verrechnet und keinesfalls als Kapitalist einzustufen ist. Für den Status des Kapitalisten gilt klarerweise dasselbe wie für den Staus des Proletariers, ein Kapitalist ist nicht eben ein Mensch der „viel Geld“ besitzt oder ein „hohes Einkommen“ lukriert sondern eine Person, die in einem ganz exakt analysierbaren ökonomisch-sozialem Verhältnis zu anderen steht.

Die Aufgabe eines kurzen Textes wie diesem kann es nun nicht sein, umfangreiches empirisches Material zu dokumentieren. Ich verstehe die folgenden Thesen als Anregung, sozusagen als Vorschlag, sich die gesellschaftliche Entwicklung unter folgenden Gesichtspunkten zu überlegen: Das Kapitalverhältnis, also das Verhältnis zwischen der Arbeitskraft und dem Kapital, verallgemeinert sich zusehends. An die Stelle spezieller, geschützter und teilweise privilegierter Arbeitsverhältnisse, die gesellschaftlich immer ihren Gegensatz, also besonders prekäre Verhältnisse voraussetzten, tritt zunehmend ein ungeschützter Arbeitsvertrag, der tendenziell für „alle“ gilt. Diese gesellschaftliche Entwicklung wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv forciert: das Paradebeispiel dafür ist der Rückbau des Beamtenstatus für viele Tätigkeiten. Generell ist zu sagen, dass Arbeitsverhältnisse nach unten nivelliert und so eine prekäre Angleichung erfahren haben, zumindest tendenziell. Verbunden ist diese Entwicklung mit der massiven Ausbreitung der neuen, prekären so genannten atypischen Beschäftigungen. Im klassischen Fordismus, der in Österreich in den 60er und 70ern voll ausgebildet war, waren die Grenzen zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten strikt gezogen. Die Aufweichungen sind elementar und offensichtlich. Als zweitere Tendenz erscheint mir die Dominanz allgemeiner Qualifikationen gegenüber speziellen Qualifikationen relevant. Paolo Virno etwa in seiner klugen Schrift „Grammatik der Multitude“ vertritt diese Auffassung ganz explizit. Auch wenn hier Vorsicht walten soll, so ist doch zumindest eine Tendenz zur allgemeinen Qualifikation unübersehbar. Wir kennen alle die Schlagworte, mit denen die Mobilisierung des Individuums für den Zweck seiner Verwertung der Arbeitskraft angekurbelt werden soll: Flexibilität, rasche Auffassungsgabe, Mobilität und natürlich das lebenslange Lernen.

Wenn wir diese beiden Tendenzen übereinander blenden so wird klar, warum das Proletariat scheinbar verschwinden musste: Was für alle gilt, gilt nicht mehr für eine bestimmte Gruppe, Definition erfordert jedoch immer Abgrenzung. Wenn es Proletarier gibt, so muss es auch explizit Nicht-Proletarier geben. Diese Differenz muss auch im Alltag unmittelbar erlebbar sein, um in das Alltagsdenken einzugehen. Was sich verallgemeinert verschwindet aber als Besonders aus dem Bewusstsein. Ideologisch getragen wurde dieser Prozess durch eine erneute Revitalisierung alter Phantasien der Herrschaft. Wie die Klassengesellschaft deklamatorisch überwinden? Indem entweder „alle“ zu Arbeitenden werden oder eben „alle“ zu Unternehmern. Das lässt sich ausgezeichnet kombinieren: Wir werden eben alle zu arbeitenden Unternehmern oder unternehmenden Arbeitenden. Für eine Phase schien dies auch irgendwie aufzugehen: da das Thema schon ein wenig abgedroschen ist, schreibe ich nun nur fünf Buchstaben an: Ich-AG. Wir können stattdessen postulieren, dass die abstrakte Definition des Proletariats durch Marx erst gegenwärtig in vollem Unfang praktisch wahr wird: Das Proletariat ist das Arbeitsvermögen, das dem Kapital „δυνάμει“ (Marx in den Grundrissen), also der Möglichkeit nach ohne weitere Bestimmung, gegenübersteht. Die Relation eines tendenziell allgemein einsetzbaren Arbeitsvermögens als Gegenpol zum Kapital bestimmt die soziale Existenzweise des Proletariats. Über konkrete Bewusstseins- oder Lebensformen als bestimmende Kriterien für das Proletariat hat Marx nichts verlauten lassen.

Die Phantasien einer qualitativ gleichen gesellschaftlichen Existenzsituation für alle scheint nach und nach zu zerplatzen, die gegenwärtige Krise, deren Tiefe und Dimensionen noch nicht wirklich absehbar ist, erinnert ganz praktisch und lebensnah an die wirklichen Verhältnisse. Aber diese Krise ist das Resultat der jüngst vergangenen Prozesse. Wenn wir die Transformationen der letzten Jahrzehnte resümieren so muss der Titel dieses Textes modifiziert werden: Wir werden nicht alle zu ProletarierInnen, wir sind es alle tendenziell schon geworden. Alle entlohnen Tätigkeiten sollten in ungeschützte Arbeitsverhältnisse überführt werden, gesamtgesellschaftliche Regelungen und oder gewerkschaftliche Aushandlungen nach Möglichkeit unterlaufen werden. Zugleich sollte der Zugriff auf die gesamte Lebenszeit des Individuums institutionalisiert werden, auch oder gerade wenn sich das Individuum nicht unmittelbar in Erwerbsarbeit befindet. Erwerbsarbeitslose haben ihr Dasein bedingungslos der Ausrichtung auf eine mögliche Erwerbsarbeit auszurichten und dabei jeden Anspruch auf bestimmte Qualitäten dieser Tätigkeit aufzugeben. Mit dem Bologna-Prozess soll die Verweildauer an den Universitäten letztlich bis auf die Stunde genau geregelt werden. Lehrveranstaltungen werden mit ECTS-Credits (European Credit Transfer System) in Stunden gemessen. Daraus lässt sich der Gesamtzeitaufwand für das Studium berechnen. In grob 5400 Stunden muss ein Bachelor produziert sein, den Master gibt es um 2500 Stunden, nur das Doktoratsstudium ist nicht zeitlich gefasst. Das Pensionsantrittsalter soll bzw. wurde bereites in vielen europäischen Saaten angehoben. Üblicherweise werden diese Kalküle als „Neoliberalismus“ bezeichnet. Ich halte diesen Ausdruck für einen Fehlbegriff, und zwar aus zwei Gründen: Erstens suggeriert der Wortteil „Liberalismus“ eine bestimmte Distanz zur Staatsintervention. Davon konnte und kann keine Rede sein. Der so genanten neoliberale Staat interveniert intensiv in die Gesellschaft, sei es durch Überwachungsmaßnahmen, sei es durch Militär und Krieg, sei es aber auch durch strukturelle Interventionen, die freilich in postfordistischen Strukturen vollzogen wurden, das heißt mittels formal und rechtlich ausgegliederter Institutionen. Da diese Institutionen formal nicht Teil des staatlich-administrativen Apparates sind, konnte Staatsferne suggeriert werden, die jedoch de facto nicht bestand und besteht. Zweitens hat die europäische Sozialdemokratie diese Politik mit Feuereifer mitgetragen, oftmals, siehe das Beispiel Deutschland, fungierte sie als Avantgarde dieser Prozesse. Ihre Kritik am Neoliberalismus soll Opposition suggerieren, die so nie bestand.

Zeitverhältnisse

Das Etikett „Neoliberalismus“ erklärt letztlich sehr wenig. Vor allem kann dieser Ausdruck eine ganz entscheidende Qualität des Klassenverhältnisses nicht in den Blick bringen. Das Verhältnis zwischen den beiden Polen, zwischen dem Proletariat und dem Kapital und seinen Trägern, ist letztlich als Zeitverhältnis zu dechiffrieren. Geld und Wert sind letztlich als Zeitquanten zu begreifen. Das Maß des Wertes, das Wieviel ist Zeit, Arbeitszeit. Es sind freilich eine ganze Reihe von höchst komplexen Mechanismen wirksam, die verausgabte Arbeitszeit in Wert- und Geldgrößen vergegenständlichen. Mechanismen, die letztlich nur auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene darstell- und begreifbar sind. Im Geld freilich ist das Zeitverhältnis als solches ausgelöscht, nicht mehr ersichtlich. Marx hat nicht zufällig fast 2000 Seiten benötigt, um die Transformation der verausgabten Arbeitszeit in Geld- und Kapitalformen darzustellen und auch jene Phänomene zu klären, in denen die Rückführung von Geld auf Zeit unmittelbar nicht möglich ist, wie etwa beim Geldpreis von bloßem Grund und Boden. Wenn wir, und sei es nur „probeweise“, die Verknüpfung von Zeit mit Geld und Wert als gegeben annehmen, so lassen sich damit eine ganze Reiche von Phänomenen klären und begreifen. Einmal die Quelle und den Ursprung des Mehrwerts bzw. seiner abgeleiteten Formen: Profit, Zins und Grundrente. Der Mehrwert entpuppt sich so als Zeitverhältnis: der geleisteten, verausgabten Arbeitszeit, vergegenständlich in den produzierten Waren, steht das Zeitquantum gegenüber, das im Geldwert der Entlohnung materialisiert ist. Wenn nun das Zeitquantum der Entlohnung geringer ist als die geleitete Arbeitszeit, fällt die Differenz als Mehrwert an das Kapital. Wenn wir nun von der molekularen Ebene des individuellen Arbeitsverhältnisses auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übergehen, so lässt sich aus den genannten Prämissen eine Rehe von Schlussfolgerungen ableiten. Je mehr und länger das Proletariat zeitlich tätig ist und je geringer das Zeitquantum, das es als Entlohnung zurück bekommt, desto größer der Zeit/Wertkuchen, den die gesamte KapitalistInnenklasse lukriert. (Die komplexen Mechanismen der „Aufteilung“ innerhalb der herrschenden Klassen wollen wir jetzt ausklammern.) Wenn wir diese These akzeptieren, und sei es vorläufig nur als heuristische Annahme, so gewinnen alle Maßnahmen des „Neoliberalismus“ Sinn. Denn der Zeitfaktor ist allgegenwärtig. Die Ausbildungszeit soll kurz und optimal seien, die Lebensarbeitszeit extrem lang, die Tages- und Wochenarbeitszeit exakt nach den Verwertungsbedürfnissen ausgerichtet. Sinnlich erfahrbar stellen sich diese Prozesse als „mehr Arbeiten für weniger Geld“ dar. In der Tat zeigen alle Einkommensstatistiken eine sich öffnende Schere. Die oberen Einkommen, vor allem des reichten 1% der Gesellschaft, sind in Europa deutlich, in den USA dramatisch gestiegen. Die mittleren Einkommen stagnieren oder sinken leicht, die unteren sinken deutlich. Wenn wir bereit sind, den Bezug zur Arbeitszeit in Erwägung zu ziehen, erscheint diese Entwicklung nicht mehr als Rätsel.

Ja noch mehr. Die gegenwärtige Krise erklärt sich. Denn eines ist klar, wenn Geld und Wert einen – durchaus komplexen und keinesfalls linearen – Bezug zur Arbeitszeit haben, dann muss sich früher oder später das Realisationsproblem stellen. Wer kann all die Waren kaufen, wenn die Massenkaufkraft, sprich das Geld/Zeitquantum des Proletariats systematisch gesenkt wird, zugleich aber mehr und mehr Zeitquanten, inkorporiert in Waren, auf dem Markt geworfen werden? Tatsächlich war es die zu geringe Kaufkraft des Proletariats, die als Auslöser der Krise fungierte. Nicht nur, dass insbesondere in den USA Eigenheime auf Kredit gekauft werden mussten, der individuelle Immobilenbesitz fungierte auch als Quelle von Belehnungskrediten, die zur Finanzierung des individuellen Konsums diente, (dieser Mechanismus war für Großbritannien relevanter als für die USA). Kurz gesagt, die Massenkaufkraft konnte für eine Phase über Kredite aufrecht erhalten werden. Früher oder später musste diese Kompensation in die Krise kommen, fallende Grundstückepreise löste eine Welle von Prozessen aus, die sich unmittelbar in Finanzsektor manifestierten. Dadurch, dass die Krise in dieser Sphäre ausbrach – die gebündelten und weiter gehandelten Kredite erwiesen sich tendenziell als uneinbringlich – zeigte sich die Krise vorerst als Finanzkrise. In den Reaktionen spiegelte sich bloß die Erscheinungswelt. Finanzhaie, Gier, Spekulation. Wir kennen alle diese Schlagworte. Nun, zweifellos existiert Gier, Spekulation, Betrug und Börsenwahn. Aber alle diese Faktoren können zwar bestimmte Aspekte und Verläufe der Krise erklären, aber nicht die Krise selbst. Die Zurückführung der Krise auf die oben dargestellt Schere zwischen Masseneinkommen (Zeitquantum der Entlohnungen) und dem Wert (Zeitquantum) der produzierten Waren ist das Undenkbare schlechthin. Diese Erklärung nur anzutippen würde ja bedeuten, die gesamte Entwicklung der letzten Jahre, ja den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbst in Frage zustellen. Eher ist es umgekehrt: Die Reaktion auf die Krise besteht darin, die sie hervorbringenden Faktoren noch zu verschärfen. Also weitere Entlassungen, noch mehr Arbeitszeit aus den Verblieben herauspressen, Kosten, sprich Löhne und Arbeitsentgelt, senken. Aus der Perspektive der Zeit/Wertidentität ist auch klar, dass der angeeignete Mehrwert in die Taschen des Kapitals fließen muss. Die Einkommensstatistiken des reichten Prozents der Gesellschaft (in den USA und in Europa) zeigen das ja auch drastisch. Kann dieses Einkommen die sinkenden Masseneinkommen kompensieren? Ist es also dasselbe, ob zehn Personen ein Auto zu je 10.000 Euro oder eine Person ein Luxusauto zu 100.000 Euro erwirbt? Wenn wir uns diese Frage überlegen so werden wir rasch zur Schlussfolgerung kommen, dass der Luxuskonsum den ausfallenden Massenkonsum nicht vollständig kompensieren kann. Mehr als üppig konsumieren kann das reichste Prozent der Gesellschaft nicht, das heißt die konkrete Nachrage nach Luxusgütern ist naturgemäß beschränkt. Der überwiegende Teil sehr hohe Einkommen muss erneut als Kapital in den Real- oder Finanzsektor strömen. All diese Faktoren müssen die sozialen Gegensätze zusätzlich verstärken.

Formkritik

Es ist gegenwärtig zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels im Jänner 2009 sehr schwierig, die tatsächlichen Dimensionen der Krise abzuschätzen. Sie könnte jedoch die Chance bieten, eine tief greifende Kritik an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu formulieren, die möglicherweise Gehör findet. Eine radikale Kritik, radikal im eigentlichen Wortsinn, muss immer auf die gegebenen gesellschaftlichen Formen fokussieren. Arbeit muss nicht Lohn- und Erwerbsarbeit sein, Produktionsmittel nicht Kapital und Grund und Boden nicht Grundeigentum. Diese Infragestellung ist Formkritik. Die gesellschaftliche Existenzweise des Proletariats ist historisch entstanden und wurde mit viel, viel Gewalt durchgesetzt. Wie John Holloway in seinem wichtigen Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ zurecht feststellte, ist der Prozess der Bildung des Proletariats keineswegs vorbei, keineswegs Geschichte. Die Unterwerfung der Individuen unter die Imperative der kapitalistischen Verwertung ist ein permanenter Prozess. Klassenkampf, so können wir bei Holloway lesen, ist der Kampf gegen das zur Klasse gemacht werden. Ich könnte nun die Argumentation um den Begriff des Proletariats für den Begriff des Klassenkampfs wiederholen. Auch hier gilt, vergessen wir die tradierten Bilder sondern denken wir analytisch. Der Klassenkampf nimmt oftmals Formen an, die vom öffentlichen Bewusstsein als solche nicht erkannt werden können. Deswegen existiert er trotzdem. Klassenkampf bedeutet also letztlich, gegen die Einfügung in das kapitalistische Zeitverhältnis zu rebellieren. Proletarische Existenzweise bedeutet unmittelbar mit einer aufgezwungenen Zeitordnung konfrontiert zu sein. Die letzten Jahrzehnte waren nun durch den Versuch gekennzeichnet, diese äußere Zeitordnung zu internalisieren, als eigenes, selbstbestimmtes Zeitregime selbstverantwortlich zu organisieren. Inzwischen quillt die Literatur über, die zeigt, dass auch für die neuen Scheinselbständigen eine tatsächlich autonome Zeitsouveränität nur ein blasser Traum ist. Zugleich tritt uns die Zeitordnung als Wert- und Geldgrößen gegenüber. Wir haben es schon angesprochen, die Tendenz zur Senkung der Masseneinkommen ist unübersehbar.

An der Frage der Formkritik scheiden sich letztlich die Geister. Die Erfahrungen mit dem so genannten realen Sozialismus waren alles andere als ermutigend. Ein Masterplan für die Überwindung der Lohnarbeit als die herrschende Form der Arbeit existiert nicht. Ich meine, in der Forderung nach dem bedingungslosen, garantierten Grundeinkommen einen ersten Ansatz dazu zu erkennen, aber dies ist ein anderes Thema. Trotzdem kann die kritische Einsicht nur darin bestehen zu erkennen, dass unsere Gesellschaft diese Formen unbedingt überwinden muss, sollen sich die Widersprüche nicht verschärfen und die Probleme nicht noch weiter zunehmen. Dem stehen politische Strategien gegenüber, die nicht einmal im Ansatz die herrschenden gesellschaftlichen Formen in Frage stellen. Das Kapitalverhältnis, die Lohnarbeit, das Geld, das Grundeigentum und, auch das wäre zu nennen, der Staatsapparat sollen unangetastet bleiben, zugleich soll auf ihrer Basis nach dem Besseren gestrebt werden. Das ist so, als ob in der Antike soziale Reformen diskutiert würden, ohne die Institution der Sklaverei auch nur anzutasten. Diese Formblindheit hat natürlich ihren Preis: Vorschläge auf dieser Basis schwanken durchgehend zwischen Obskurantismus und Blauäugigkeit. Treten sie uns als realistische Konzepte entgegen, ist das Ausmaß ihrer sozialen Angepasstheit und ihres Konformismus unübersehbar. Da spreche ich doch lieber scheinbar ganz altmodisch von Proletariat und Klassenkampf.

Anmerkung: 1 Der Ausdruck „sinnliche Gewissheit“ ist eine ironische Anspielung auf diese Kategorie in der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“.

Angesprochene Literatur:

  • John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002
  • Marx Karl, Kapital Band 1, MEW 23
  • Karl Marx, Kapital Band 2, MEW 24
  • Karl Marx, Kapital Band 3, MEW 25
  • Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42
  • Paolo Virno, Grammatik der Multitude, übersetzt von Klaus Neundlinger, Wien 2005
Sigel: MEW = „Marx Engels Werke“, Berlin 1965f
(C) Die Autoren changed: 12. Februar 2019