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Peter Weibel

 

WARUM IST INTELLIGENZ IN ÖSTERREICH TEILWEISE UNSICHTBAR?

Peter Weibel

Einleitung

Erlauben Sie mir, die Gelegenheit zu nützen für Worte des Dankes. Kulturreferent Dr. Kurt Flecker sei vor allem gedankt, da er spontan die Idee bejaht hat, dass wir diese Konferenz machen, und sie mit einer Sonderdotierung ermöglicht hat.

Ich danke auch Frau Dr. Steinle, dass sie diesen Kurs des Diskurses durchhält, der die Programmatik der Neuen Galerie prägt.

Im Zeitalter des Quotendrucks und des Populismus ist natürlich ein Museum massen medial unsichtbar, wenn es versucht, seinem wissenschaftlichen Auftrag nachzukommen. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir versuchen, intelligente Ausstellungen zu machen. Aber wir bezahlen diesen Preis gerne.

Ich danke auch besonders Franz Nahrada, dass er es in die Hände genommen hat, die Auswahl der ReferentInnen zu treffen, und ich danke vor allem Ihnen, sehr geehrte Vortragende und Referentinnen und Referenten, dass Sie nach Graz gekommen sind, um mit uns gemeinsam die Kritik der Gegenwart voranzutreiben.

Es gibt zwei Klammern, innerhalb deren ich meine Argumente spannen möchte. Erstens, es ist eine merkwürdige Sache, dass gerade ein Österreicher es war, der sagte: »Die Stimme der Vernunft ist leise.« Vielleicht ist dieser Satz aber keine generelle Aussage, sondern nur ein Befund der österreichischen Gesellschaft. Vielleicht hätte er richtiger lauten sollen: »Die Stimme der Vernunft ist leise in Österreich.«

Dieser Satz »Die Stimme der Vernunft ist leise« stammt von einem typischen Österreicher, von einer österreichischen Seele, welche diese sehr genau analysierte und dieser Analyse den Namen gab: Psychoanalyse. Also Sigmund Freud verdanken wir die Einsicht, dass in Österreich die Stimme der Vernunft leise ist. Damit sind auch schon der Titel und das Motto dieses Symposions bzw. die 19 Quelle dieses Titels geklärt, nämlich Freuds Befund der österreichischen Befindlichkeit. »Die Stimme der Vernunft ist leise« ist gewissermaßen das akustische Gegenstück zur »unsichtbaren Intelligenz«,

Freud hätte fast sagen müssen: »Die Stimme der Vernunft ist unsichtbar.«

Es gibt eine zweite Klammer, von der ich bei meinen Überlegungen ausgehe, nämlich von dem großen deutschen Mathematiker David Hilbert, der 1900, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei einem Vortrag in Paris über die anstehenden 23 Probleme der Mathematik sagte, er sei zuversichtlich, dass wir diese 23 Probleme der Mathematik positiv lösen würden, und er beendete diesen Vortrag mit folgenden Sätzen: »Wir müssen wissen. Wir werden wissen. « Er formulierte also den Anspruch einer Wissensgesellschaft. Er hat diesen Spruch leider buchstäblich mit ins Grab genommen, denn er steht seit seinem Tod 1943 auf seinem Grabstein in Göttingen. Anstelle dieses Anspruchs der Wissensgesellschaft, der 1943 buchstäblich starb, ist ein neuer Anspruch getreten, der heute eben heißt: »Wir wollen unterhalten werden. Wir werden unterhalten werden.« Und wir haben dafür die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, das diese Ansprüche einer Unterhaltungsgesellschaft einlöst. Darum geht es eben heute: Wie können Intelligenz und Kompetenz im Zeitalter der Unterhaltungsgesellschaft, die eine unüberbietbare Hegemonie ausübt, überleben bzw. sichtbar und hörbar bleiben? Wie kann also die Stimme der Vernunft lauter und sichtbarer werden?

1. Die Zerstörung der akademischen Intelligenz 1922-1938

Das führt uns direkt zur Frage, die im Titel gestellt wird. Wie ist es gekommen, dass gerade Österreich, das doch vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre in Wissenschaft, Philosophie und Kunst so viele bedeutende Beiträge zur Rationalität und Aufklärung, von der Sprach- bis zur Psychoanalyse produzierte, ein so negatives Verhältnis zur Rationalität, zur Vernunft und zur Kritik 20 entwickelt hat? Meiner Ansicht nach gibt es zwei Gründe: erstens die Erste Republik, zweitens die Zweite Republik. Diese Antwort ist so stoisch, wie sie stimmig ist. Für die politische Entwicklung von 1918 bis 1938, die im christlich-sozialen Ständestaat kulminierte, nenne ich nur zwei dramatische Daten: 1924 erschien ein Buch mit dem prophetischen Titel: »Die Stadt ohne Juden« von Hugo Bettauer, ein Jude, der zum Protestantismus konvertierte und 1925 erschossen wurde. 1936 wurde Moritz Schlick, einer der Gründer des Wiener Kreises, jener geschichtsmächtigen, weltweit wirksamen analytischen Philosophie, auf der Stiege der Universität Wien von dem Katholiken Hans Nelböck erschossen. 1937 erhielt Nelböck dafür die Strafe von zehn Jahren Kerker. Aber nach dem »Anschluss« 1938 wurde er bereits nach einem Jahr entlassen und lebte bis 1954 unbehelligt.

Mit diesen beiden Daten sind der Antisemitismus und die Antirationalität der Ersten Republik klar gekennzeichnet. Die Vertreibung und Vernichtung der Vernunft begannen schon vor dem nationalsozialistischem Regime. Dies war eine eigenständige österreichische »Leistung« und darf nicht der Annexion durch Deutschland in die Schuhe geschoben werden. Klarerweise nahm die Antiintellektualität, der Kampf gegen den Geist, in den Jahren 1933 bis 1945 extrem zu. In diesem Zeitraum von zwölf Jahren diente dieser Antiintellektualismus dazu, nicht nur eine extreme Politik der Enteignung zu verwirklichen, von der Stephan Templ noch sprechen wird, sondern begann auch ein erzwungener Massenexodus der Intelligenz.

Ungefähr 145.000 Intellektuelle wanderten aus, in zwölf Jahren, davon 130.000 Juden. Ich habe zusammen mit Friedrich Stadler und einer Forschungsgruppe ein Buch gemacht, in dem wir 5.000 dieser Lebensläufe – Ärzte, Juristen, Musiker – exakt nachgezeichnet haben, um ein Bild zu geben, wie ebendieser Massenexodus der Intelligenz funktionierte, der bis heute ein Vakuum hinterlassen hat, das nicht aufzufüllen war und nicht aufgefüllt ist.1

Wie schnell und entschlossen die Vertreibung der universitären 21 Intelligenz funktionierte und wie gut vorbereitet sie offensichtlich war, soll in ihren wichtigsten Stationen kurz angedeutet werden:

Am 12. März 1938 marschieren Einheiten der deutschen Wehrmacht, SS und Polizei (rund 65.000 Mann) unter dem Jubel der Bevölkerung in Österreich ein. Am 13. März 1938 wird diese faktisch militärische Annexion durch das »Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« legitimiert. Carl Zuckmayer schreibt in seiner Autobiografie »Als wär’s ein Stück von mir« (1966) über den 11. März 1938: »An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. (…) Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Haß richtete sich gegen alles durch die Natur oder Geist Veredelte.«

In wenigen Tagen erfolgte die Verhaftung vieler Politiker und Intellektueller der Ersten Republik (rund 72.000 Menschen). Ab März 1938 wurden jüdische MitbürgerInnen gezwungen, zur Zufriedenheit gaffender und höhnender Zivilisten Wiener Gehsteige zu reinigen. Ebenso begannen unmittelbar die Feldzüge der Enteignungen von Wohnungen, Fabriken, Bibliotheken und Gemälden sowie die Entlassungen aus beruflichen Positionen im industriellen und kulturellen Feld. Der Antisemitismus, seit Karl Lueger (1897-1910 Bürgermeister von Wien) erfolgreiches politisches Programm, zeigte seine höllische Fratze öffentlich. Am 10. April 1938 ließ Hitler nachträglich durch eine Volksabstimmung die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich »absegnen «. Dieses Ja zum »Anschluss«, dieser Aufstand des Pöbels, dieser Hass gegen den Geist wurden im Vorfeld von vielen Prominenten vehement unterstützt: von Kardinal Innitzer und den katholischen Bischöfen, ebenso von der evangelischen Kirche, von dem Sozialdemokraten Karl Renner, später erster Bundespräsident der Zweiten Republik, und von Michael Hainisch, 1920-1928 Bundespräsident der Ersten Republik. Hier beginnt schon die »Erbsünde« der Zweiten Republik, was ich Kontinuumshypothese nenne. Nach amtlichen Angaben gab es eine Zustimmung von 99,73 %. Der Weg zum »Anschluss« war allerdings vorbereitet durch die Ausschaltung von Parlament und Opposition ab 4. März 1933, mit der die sogenannte Dollfuß-Diktatur bzw. der austrofaschistische Ständestaat begann. Engelbert Dollfuß, von 1932 bis 1934 Bundeskanzler, stand eher dem italienischen Faschismus nahe und lehnte den deutschen Nationalsozialismus ab, weswegen er von österreichischen Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 ermordet wurde.

Die Bastionen der Vernunft und der Menschenwürde wurden aber bereits ab Beginn der 1930er Jahre systematisch geschliffen. In den kulturellen Institutionen und an den Universitäten versammelten sich immer mehr illegale Nationalsozialisten, konservative katholische Eiferer und Fundamentalisten, die sich in der Kultur der Moderne unbehaglich fühlten und immer offener »jüdische Wissenschaften « wie Mathematik, Physik und Analytische Philosophie angriffen. Das berühmte Buch »Das Unbehagen in der Kultur« von Sigmund Freud kann das Datum seines Entstehens, 1930, nicht leugnen. 1931 fügt nämlich Freud einen prophetischen Schlusssatz hinzu: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.« Das Fanal der Ausrottung der Intelligenz hat, wie schon gesagt, ein Datum: Am 22. Juni 1936 wurde Moritz Schlick auf den Stiegen der Universität Wien erschossen. Dieser Mord geschah unter dem publizistischen Beifall etlicher Kollegen der Wiener Universität. Die katholisch-nationalistische Zeitung »Schönere Zukunft« publizierte am 12. 7.1936 den Artikel eines gewissen anonymen Dr. Austriacus »Der Fall des Wiener Professors Schlick – Eine Mahnung zur Gewissenserforschung«, in dem er für das christlich-deutsche Österreich eine christliche Philosophie einforderte, denn es handle sich um Christen, die in einem christlich-deutschen Staat lebten und die selber entscheiden würden, welche Philosophie gut und brauchbar sei. Mit Schlicks Ermordung wurde schockartig offenkundig, dass eine mörderische Hetzjagd auf die akademische Intelligenz, insbesondere mosaischen Glaubens und insbesondere auf die Mitglieder des Wiener Kreises, begonnen hatte. Mit dem »Anschluss« an das Deutsche Reich wurde die Universität Wien in kürzester Zeit zu ei- ner nationalsozialistischen Institution umgestaltet. Jüdische Professoren, Dozenten und Studierende wurden vertrieben. Für sie bedeutete der »Anschluss« den Ausschluss von der Universität Wien.

Die Vertreibung verlief nach dem gleichen Muster wie zuvor in Deutschland. Was dort allerdings zum Teil bis zu sechs Jahren gedauert hat, wurde in Wien nach dem »Anschluss« in wenigen Monaten und unter reger Beteiligung der NS-nahen Studierenden, Beamten und Professoren umgesetzt. Was Götz Aly in seinem Buch »Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus« (2005) für Deutschland festgestellt hat – dass die Zustimmung zum Nationalsozialismus erfolgte, weil diese für die große Mehrheit der Bevölkerung von beruflichem und finanziellem Vorteil war –, gilt noch viel mehr für Österreich. Der Rassenkrieg war auch ein Klassenkrieg. Der Ermordung der Juden ging deren Enteignung voran.

An der Universität Wien wurden im Jahr 1938, mit der Machtübernahme, über 2.700 vorwiegend jüdische Angehörige der Universität entlassen und in der Folge vertrieben oder ermordet – Lehrende, Studierende und MitarbeiterInnen der Verwaltung. Des Weiteren wurde über 200 Personen der akademische Grad aberkannt. Von den 9.180 Studierenden der Universität im Wintersemester 1937/38 verließen 1938 42 Prozent die Universität – allerdings 23 Prozent nicht freiwillig. 2.230 Studierende wurden als Jüdinnen und Juden vertrieben. Den meisten gelang die Flucht, doch über 90 von ihnen wurden später im Zuge der Shoah ermordet. Bereits am 22. April 1938, nur wenige Wochen nach dem »Anschluss«, wurde ein Numerus clausus von 2 Prozent für jüdische Studierende eingeführt (ein Zehntel der bisherigen Anzahl). Die Namen der jüdischen Studierenden wurden von der Universität an die Gestapo weitergeleitet mit dem Ersuchen, dort zu überprüfen, ob nicht »einzelne in Haft genommen werden sollten«.

Das Tempo der Nazifizierung beschleunigte sich. Einen Tag später, am 24. April 1938, wurde jüdischen Studierenden das Betreten der Universität verboten. Der Ausschluss war endgültig. Für viele Jüdinnen und Juden bildeten die März- und Apriltage 1938 den letzten Schultag, den letzten Studientag oder den letzten Arbeitstag. Über Nacht wurden alle Nazis.

Die Meute hatte nur darauf gewartet anzugreifen, die Geschäfte zu plündern oder zu »arisieren«, die Eigentümer aus ihren Wohnungen zu werfen, die Gemälde zu stehlen und Bibliotheken auszuräumen. Vor dem »Anschluss« waren die meisten freundlich, nach dem »Anschluss« schlugen die freundlichen Menschen die Juden blutig. Wer konnte, floh ins Exil.

Fast alle Mitglieder des Wiener Kreises, einer der einflussreichsten philosophischen Schulen des 20. Jahrhunderts, wählten die Flucht ins Ausland und zwangsemigrierten spätestens um 1938, sofern sie nicht schon in der Zeit des Austrofaschismus Österreich verlassen hatten. Der Wiener Kreis war eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern, die sich von 1922 bis 1936 unter der Leitung von Moritz Schlick wöchentlich in Wien trafen. Die Philosophie des Wiener Kreises wurde als logischer Empirismus oder Positivismus bekannt. Bekannte Vertreter waren u.a. Rudolf Carnap, Otto Neurath, Herbert Feigl, Philipp Frank, Friedrich Waismann, Olga Hahn-Neurath und Felix Kaufmann. Ihnen nahe standen Ludwig Wittgenstein, Karl Popper, Kurt Gödel, Karl Menger etc. Die Vertreibung der Mitglieder des Wiener Kreises, die Zerstörung der Vernunft an der Universität Wien, erfolgte in mehreren Etappen. Der Verein Ernst Mach war 1928 begründet worden, um die Ergebnisse des Wiener Kreises öffentlich zu machen. 1929 wurde in Prag im Namen des Vereins die Broschüre »Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis« publiziert, die erste offizielle Publikation, die der Gruppe ihren Namen gab. Vom Februar 1934 bis Juni 1936 kam es zu den ersten Emigrationen. Im Februar 1934, im Monat des österreichischen Bürgerkrieges, kam es zur staatlich verordneten Auflösung des Vereins Ernst Mach wegen seiner »sozialdemokratischen Aktivitäten«. 1936 war das Jahr der Ermordung von Moritz Schlick. Die erste Welle der Vertreibung der Intelligenz erfolgte bis 1936. Von 1936 bis 1938 erfolgte die zweite verschärfte Welle. 1938 war das Jahr des »Anschlusses«. Nach 1938 erfolgte die letzte, endgültige Welle. Die Mitglieder des Wiener Kreises zwangsemigrierten hauptsächlich mit der zweiten und der letzten Welle.

Otto Neurath, 1882 in Wien geboren, Studium der Mathema- tik, Ökonomie und Philosophie, 1917 Habilitation für politische Ökonomie in Heidelberg, 1919 Präsident des Zentralwirtschaftsamtes in der Münchner Räterepublik, im Mai 1919 wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Vorzeitig entlassen, wurde er nach Wien abgeschoben, wo er zu einem organisatorischen Motor des Wiener Kreises wurde. Radikal war sein Konzept der Reduktion der Welt auf Protokollsätze, einflussreich war seine Erfindung der Wiener Methode der Bildstatistik (Isotype), zusammen mit dem progressiven Künstler Gerd Arntz, wegweisend war sein enzyklopädisches Projekt der Einheit der Wissenschaft. Wikipedia, die freie Enzyklopädie, kommt seinem Traum wahrscheinlich am nächsten. Nach den Bürgerkriegsereignissen des 12. Februar 1934 emigrierte er nach Den Haag und 1940 nach England, wo er 1945 in Oxford starb.

Rudolf Carnap, 1891 in Wuppertal geboren, Studium der Mathematik, Physik und Philosophie, unter anderem bei Gottlob Frege. 1926 Habilitation mit »Der logische Aufbau der Welt« (1928) an der Universität Wien. Führendes Mitglied des Wiener Kreises. 1931-1935 Professur in Prag. Berühmt ist seine kritische Auseinandersetzung mit den metaphysischen Scheinsätzen der Phänomenologie von Husserl bis Heidegger. Aufbauend auf den Arbeiten von Gottlob Frege, Bertrand Russell und A. N. Whitehead entwickelte er eine Auffassung von Philosophie als logische Analyse der Sprache. Dementsprechend heißen seine Werke auch: »Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit« (1928) und »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« (1932). Als ein Hauptwerk gilt »Logische Syntax der Sprache« (1934), worin Carnap dafür plädiert, die Philosophie durch die logische Analyse der Wissenschaftssprache zu ersetzten. Seine Werke zur Logik und Mathematik sind so bedeutend, dass P. A. Schilpp 1963 einen umfangreichen Band herausgab: »The Philosphy of Rudolf Carnap«. 1936, nach Schlicks Ermordung, emigrierte Carnap in die USA, wo er nach Stationen in Chicago und Princeton 1970 in Kalifornien starb.

Philipp Frank, geboren 1884 in Wien, Philosoph, Physiker und Mathematiker, Student von Ludwig Boltzmann, Freund von Ludwig von Mises und Albert Einstein, der ihn 1912 als seinen Nachfolger an die Deutsche Universität in Prag empfahl. Mitglied des Wiener Kreises, wanderte er nach dem »Anschluss« 1938 in die USA aus, wo er an der Harvard University in Cambridge unterrichtete und 1966 starb. Sein Bruder, Josef Frank, geboren 1885 in Baden bei Wien, ein bedeutender Architekt der Moderne, Gründungsmitglied des Wiener Werkbundes, emigrierte bereits 1933 nach Schweden.

Karl Menger, 1902 in Wien als Sohn des bedeutenden Ökonomen Carl Menger geboren, Mathematiker, Schüler von Hans Hahn, arbeitete von 1928 bis 1936 als Universitätsprofessor für Geometrie an der Universität Wien. Mengers Kolloquium wurde zu einem international bekannten Treffpunkt von Mathematikern und Logikern wie Alfred Tarski, W. V. O. Quine und anderen. Sein Kolloquium war Teil des Wiener Kreises. 1936, nach Schlicks Ermordung, emigrierte er in die USA, wo er 1946 Professor in Chicago wurde und dort 1985 verstarb.

Felix Kaufmann, 1895 in Wien geboren, Rechtsphilosoph, 1922-1938 Privatdozent an der Universität Wien, Mitglied des Wiener Kreises, 1938 Auswanderung nach New York, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1949 an der New School for Social Research lehrte.

Gustav Bergmann, geboren 1906 in Wien, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph, Klassenkamerad von Kurt Gödel, Mitglied des Wiener Kreises, nach 1930 Assistent von Albert Einstein in Berlin, wegen der anschwellenden Diskriminierung der Juden Rückkehr nach Wien, emigrierte nach dem »Anschluss« 1938 in die USA, wo er in Iowa eine eigene philosophische Schule aufbaute und 1987 starb.

Friedrich Waismann, geboren 1896 in Wien, Mathematiker, Physiker und Philosoph, ein enger Freund und Mitarbeiter von Ludwig Wittgenstein, hatte bei Moritz Schlick studiert und emigrierte 1938 nach Großbritannien, wo er 1959 als Dozent für Philosophie der Mathematik in Oxford starb.

Kurt Gödel, 1906 in Brünn geboren, Mathematiker und Logi- 27 ker, besuchte regelmäßig das Mathematische Kolloquium von Karl Menger und gelegentlich die Treffen des Wiener Kreises. Im Jahr 1931 publizierte er seine epochale Arbeit »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia mathematica und verwandter Systeme «, den berühmten Unvollständigkeitssatz. Nach dem »Anschluss« verlor er seine österreichische Dozentur und konnte im Frühjahr 1940 endgültig nach Princeton fliehen, an das dortige Institute for Advanced Study, das er erstmals 1933/34 besucht hatte.

Carl Gustav Hempel, 1905 in Oranienburg geboren, studierte ab 1924 in Berlin Mathematik, Philosophie und Physik, zog aber 1929 nach einer Begegnung mit Rudolf Carnap nach Wien und wurde Mitglied des Wiener Kreises. 1939 emigrierte er, der mit der Jüdin Eva Ahrends verheiratet war, in die USA, wo er ab 1955 in Princeton lehrte und 1997 starb.

Karl Popper, 1902 in Wien geboren, ursprünglich Denkpsychologe, stand in Gedankenaustausch mit Mitgliedern des Wiener Kreises. 1937 emigrierte Popper, bis 1935 Hauptschullehrer für Mathematik und Physik in Wien, nach Neuseeland. 1946 übersiedelte das Ehepaar Popper nach London, wo er 1994 verstarb. Mit seinem kritischen Rationalismus, vor allem durch sein Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1945), wurde Popper der Philosoph mit dem größten Einfluss auf Politiker.

Victor Kraft, geboren 1880 in Wien, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph, war ab 1912 an der Wiener Universitätsbibliothek tätig. 1924 wurde er außerordentlicher Professor. Nach dem »Anschluss« galt er wegen seiner jüdischen Frau als »jüdisch Versippter« und verlor seinen Posten wie seine Venia legendi. Nach 1945 wurde er rehabilitiert und 1950 ordentlicher Professor der Philosophie, emeritierte allerdings bereits 1952. Er hatte bedeutende SchülerInnen wie Paul Feyerabend, Ernst Topitsch, Ingeborg Bachmann und Béla Juhos. Er starb 1975 in Wien.

Béla Juhos (1901-1971) war der letzte Vertreter des Wiener Kreises an der Universität Wien und starb vor seinem Lehrer. Juhos war übrigens auch der Lehrer des Verfassers des vorliegenden Artikels.

Herbert Feigl, 1902 in Reichenberg, damals Österreich-Ungarn, geboren, stieß Anfang der 1920er Jahre zum Wiener Kreis. 1927 promovierte er in Philosophie und emigrierte 1931 in die Vereinigten Staaten, wo er ab 1953 in Minneapolis das Minnesota Center for Philosophy of Science aufbaute. Er starb 1988 ebendort.

Eine Pléiade von Genies hatte sich im Wiener Kreis an der Universität Wien versammelt. Von diesem Kreis gingen Wellen der Erneuerung und Erschütterung durch die Welt der Philosophie, Mathematik, Physik und Logik aus. Das philosophische Profil des 20. Jahrhunderts würde ohne den Wiener Kreis anders aussehen, denn wesentliche Errungenschaften der Sprachphilosophie, der Wissenschafts- und Erkenntnisphilosophie, der Mathematik, Logik und Physik verdankt die Welt den enorm zahlreichen Meisterwerken der Mitglieder des Wiener Kreises. Die Meute der Mediokren, »Hitlers willige Vollstrecker«, so der Titel des bekannten Buches von Daniel Goldhagen (1996), die ganz gewöhnlichen Durchschnittsbürger, zerstörten in ihrem Hass und ihrem Neid, aus Eigennutz und mit dem Ziel der Bereicherung (einen Posten, ein Geschäft oder eine Wohnung denen wegzunehmen, die sie haben, weil man sie selbst nicht hat) diese glänzende Epoche. Der Antisemitismus war dabei ein willkommenes Vehikel für diese mörderische antikulturelle Barbarei. Die Zerstörung und Vertreibung der Vernunft aus Österreich, aus der Universität Wien, zwischen 1932 und 1938, ist am Beispiel des Wiener Kreises exemplarisch zu erkennen. Es ist daher historisch logisch, dass der Autor, der mit seinem Werk »Die Vernichtung der europäischen Juden« (The Destruction of the European Jews, 1961) die Holocaust-Forschung begründete, ein 1926 in Wien geborener Österreicher mosaischen Glaubens ist, nämlich Raul Hilberg, der 1939 im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie in die USA emigrieren musste.

Das Kontinuum der nationalsozialistischen Ideologie nach 1945 verhinderte die Rückkehr der vertriebenen akademischen Intelligenz. Diejenigen, die sich die Positionen, Fabriken, Häuser, Wohnungen und Kunstwerke in einem rassistisch begründeten Bürgerkrieg geraubt hatten, behielten sie auch nach 1945. Erst mit einer Verspätung von 50 Jahren begann langsam und zäh ein Prozess der 29 Restitution und erst 2004 unter der Leitung von Friedrich Stadler an der Universität Wien das Forschungsprojekt »Bildungsbiografien und Wissenstransfer. Studierende der Universität Wien vor und nach 1938«, das am 12. März 2008 in einer Buchpräsentation vorgestellt wurde. Genau 70 Jahre nach 1938 wurde den Opfern des Nationalsozialismus an der Universität Wien als Eingeständnis der Mitschuld (aber immer noch euphemistisch als »Mitverantwortung « bezeichnet) g ein Gedenkbuch ewidmet. Das Forschungsprojekt ist im Netz dokumentiert. Etliche Daten dieses Essays stammen aus dieser Dokumentation.

2. Das Kontinuum der Zerstörung nach 1945: Die Verbannung und Marginalisierung der freien Intelligenz

Der zweite Grund für die Unsichtbarkeit kritischer Intelligenz in Österreich ist, dass die Zweite Republik nach 1945 die Politik der Ersten Republik fortgeführt hat. Ich nenne das die Kontinuumshypothese. Die Entnazifizierung fand kaum statt, sondern von den Lehrern bis zu den Beamten, von den Künstlern bis zu den Bankern blieb das handelnde Personal nach 1945 das gleiche wie vor 1945. Beispielhaft für dieses faschistische Kontinuum in Wissenschaft, bildender Kunst, Justiz etc. sei Karl Böhm erwähnt, der das letzte Konzert im Krieg und das erste Konzert nach dem Krieg in der Wiener Staatsoper dirigierte.

Ich zitiere aus Wikipedia:

»Böhm war kein Mitglied der NSDAP, gehörte aber dem von Alfred Rosenberg gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur an. Auf Fürsprache Hitlers wurde Böhm aus seinem Vertrag als Hamburger Generalmusikdirektor entlassen, um 1934 Nachfolger von Fritz Busch in Dresden werden zu können, welchen die Nazis aus politischen Gründen zum Rücktritt und zur Emigration gezwungen hatten. 1942 kaufte Böhm eine arisierte Villa in Wien 19, Sternwartestraße 70. 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, als viele Künstler zu den Waffen gerufen oder zum Arbeitseinsatz an der ›Heimatfront‹ verpflichtet wurden, nahm ihn Hitler in die Gott begnadetenliste der wichtigsten Dirigenten auf, was einer Freistellung gleichkam. 1943 wurde er das erste Mal Direktor der Wiener Staatsoper. 1945 entfernten ihn die alliierten Besatzungsbehörden wegen zu großer Nähe zum Nazi-Regime aus diesem Amt und belegten ihn mit einem Auftrittsverbot (ähnlich wie es Herbert von Karajan erhielt). Von 1955 (genau nach Ende der Besatzungszeit) bis 1956 wurde er dann ein zweites Mal mit diesem Amt betraut. Später schrieb Böhm in seinen Memoiren: ›Die Tatsache, daß ich nicht emigriert bin, hat man mir später ebenfalls verübelt. … Ich hatte damals leider kein Angebot von der Met oder von Covent Garden. … Ich … glaube aber im Verlaufe meiner Tätigkeiten sowohl in Dresden sowie später in Wien bewiesen zu haben, auf welcher Seite ich immer gestanden bin.‹«2

Dieses Mitläufertum aus Überzeugung und Opportunismus ist typisch für die meisten Österreicher. Ihre Überzeugung nützte ihnen beim »Arisieren« von Wohnungen, bei der Akquisition von Posten. Durch die Vertreibung der Juden und der rationalen Kultur wurden Fabriken, Wohnungen, Kunstwerke und Positionen frei – eine Occasio, die sich der gelernte Österreicher, der gelernte Opportunist, nicht entgehen ließ und für welche Gelegenheit er auch rechtzeitig eine »Überzeugung« anlegte, die er später wieder wechselte, wenn es opportun schien. Die »neuen« Besitzstände blieben nach 1945 unangetastet. Die »neuen« Besitzer von Fabriken, Wohnungen, Kunstwerken und beruflichen Positionen, die »neue« Klasse, die nicht durch Leistung, sondern durch die »Arisierung« und Zwangsemigration ihren »Besitzerstatus« erworben hatten, verteidigten ihren »Besitz« nach 1945 mit allen juristischen und politischen Klauen, in der Hauptsache bis heute. Am Anfang dieser nach 1945 fortgesetzten Politik der Enteignung stand die berühmte Formel »die Sache in die Länge ziehen«.3

Statt Wiedergutmachung, Restitution des Geraubten und Ent- schädigung wurde mit allen Mitteln versucht, die legitimen Ansprüche nach 1945 zu sabotieren. Das beliebteste Mittel dabei war das finanzielle Aushungern und – angesichts des fortgeschrittenen Alters vieler KlägerInnen – biologische Aussitzen, also die Politik des Verzögerns.

Die »Väter« der Zweiten Republik waren kaum daran interessiert, sich für die in der NS-Zeit zu Schaden gekommenen Juden einzusetzen. Sie wollten Entschädigungsfragen eher ausdrücklich »in die Länge ziehen«. Der britische Historiker Robert Knight legte in einer Publikation aufschlussreiche Ministerratsprotokolle und Dokumente aus den Jahren 1945 bis 1952 über die Rückgabe von »arisiertem« Vermögen an Juden und »Displaced Persons« vor.4 Sie weisen drastischer als je zuvor auf die Usancen der Zweiten Republik in jüdischen Fragen hin und geben darüber hinaus indirekt Einblick über die Einstellung der österreichischen Bevölkerung. Die Haltung, die im Titel angedeutet ist – es handelt sich dabei um einen Ausspruch des sozialdemokratischen Innenministers Oskar Helmer –, war Programm. Selbst einer, der wie Bundeskanzler Leopold Figl das KZ Dachau überlebt hatte, war der antisemitischen Reaktion nicht abgeneigt: »Wir heißen alle Österreicher wieder bei uns willkommen – aber als Österreicher, nicht als Juden.« Ähnlich ablehnende Aussagen wurden gleich nach Ende des Krieges von allen Beteiligten in österreichischen Regierungskreisen gemacht, um Restitutionsansprüche abzuschlagen – ganz im Sinn eines Handelsministers Erwin Kolb, der im Mai 1946 zum Ausdruck brachte, das Land habe »nichts gutzumachen, weil es nichts verbrochen« habe. Der bevorstehende Kalte Krieg verhinderte wie in Deutschland eine sorgfältigere Entnazifizierung auch in Österreich.

In das gleiche Schema fällt der berühmte Brecht-Boykott.5 Der Komponist Gottfried von Einem wurde seiner Funktion bei den Salzburger Festspielen entledigt, man schmiss ihn hinaus, nur weil er es gewagt hat, sich in Österreich für Bertolt Brecht einzusetzen.

»Wiener Brecht-Boykott« wurde die Zeit zwischen 1952 und 1963 genannt, in der kein namhaftes Wiener Theater den Autor Bertolt Brecht aufführte. Zu einem Eklat kam es, als dem staatenlosen Brecht auf Empfehlung des Komponisten Gottfried von Einem am 12. April 1950 von der Salzburger Landesregierung die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, da er bereits seit 1948 in Ost-Berlin lebte und als Sympathisant des DDR-Regimes galt. Im Klima des Kalten Krieges entspann sich eine polemische Pressekampagne gegen Werk und Person Brechts. Die Schriftsteller Hans Weigel und Friedrich Torberg wandten sich mit Entschiedenheit gegen Brecht-Aufführungen in Wien. Einzig das Neue Theater in der Scala, das sich im sowjetischen Besatzungssektor befand, widmete sich seinen Stücken. Es wurde jedoch von der Presse gemieden, sodass es 1956 schließen musste.

Nachkriegsösterreich war weiterhin gegenüber der Ratio, der Rationalität, der rationalen Philosophie und der Vernunft feindlich eingestellt. Die Anwälte der Zweiten Republik haben sich zurückgebogen bzw. bezogen sich auf die Erste Republik. Nachdem die institutionelle Intelligenz (in Akademien, Universitäten) schon vertrieben war, bildete die Vernichtung und Anfeindung der freien, institutionslosen, sogenannten schwebenden Intelligenz den Schwerpunkt des ideologischen Kampfes.

Der schon erwähnte letzte Vertreter des Wiener Kreises an der Universität Wien, Bela Juhos, schrieb noch 1971, ein Jahr nach Kreiskys Amtsantritt als Bundeskanzler: Er finde in Österreich eine Wiederkehr der reaktionären Kulturpolitik.

Das hat sich teilweise nach Kreisky verbessert, aber nicht in dem Maß, wie es uns erzählt wird. Ich versuchte mit Werner Schimanovich, Kreisky dafür zu interessieren, dass Österreich den Gödel- Nachlass von Princeton und seiner Wiener Witwe kaufte und die Gödel-Schriften publizierte. Im Lauf der Forschung fand ich einen Brief, in welchem der Spiel- und Wirtschaftstheoretiker Oskar Morgenstern, ein persönlicher Freund Kreiskys, diesem schrieb: Gödel sei der größte Mathematiker des 20. Jahrhunderts, andere Völker wären stolz, so jemanden zu haben – »also bitte, lieber Freund, setze dich dafür ein, daß für den Mann etwas getan wird, daß er nicht 33 weiter in Österreich ›verschwiegen‹ wird«.

Gödel selbst schrieb in einem Brief an seine Mutter: »In Österreich möchte man so tun, als wäre ich nicht existent, man verschweigt meine Existenz.«

Die Verwandtschaft der Wortwahl – von »die Stimme der Vernunft ist leise« bis zu »man verschweigt die Existenz« – ist auffallend.

Diesen Brief legte ich meiner Bitte an Kanzler Kreisky bei, uns vielleicht 15.000 Schilling zu geben – heute ein lächerlicher Betrag –, damit wir beginnen könnten. Kreisky lehnte das ab – obwohl ich ihm den Brief seines lieben Freundes Morgenstern zeigte. Also, es ist nicht so gewesen, dass die Sozialdemokratie sich für die Intelligenz besonders erwärmt hätte. Wir lösten das dann so, dass wir die Briefe selbst kauften, durch einen Kredit, und dann nach einiger Zeit, als die Bank den Kredit einforderte, wir aber nicht zurückzahlen konnten, mit diesem Notfall zum populären Bürgermeister Dr. Zilk gingen.

Der erlöste uns dann; er meinte: Bevor wir den Kredit nicht zurückbezahlen könnten, kaufe das die Gemeinde Wien. Und seither gibt es in der Gemeinde Wien die Briefe von Gödel an seine Mutter.6

Die Zweite Republik hat sich ideologisch und mentalitätsgeschichtlich lange Zeit nicht sehr von der Ersten Republik differenziert; sie war gewissermaßen deren Verlängerung. Das kann man auch darin sehen, dass der »brain drain« sich fortsetzt. Man schaut wieder zu, während die gesamte Intelligenz aus dem Land hinausgeht. Wenn ich nur eine Liste meiner Studienkollegen aufzähle (ich habe unter anderem Logik und Mathematik studiert), komme ich auf eine Liste von ungefähr 40 Mathematikern, zum Teil sogar Wittgenstein- Preisträger, die in Österreich nicht arbeiten, weil man ihnen keine Arbeitsmöglichkeiten gibt. Das Versagen des Staates gegenüber seiner Intelligenz, auch seiner akademischen Intelligenz, hält weiterhin an. Noch 1998 klagt der Gentechniker und Biochemiker Karl Kuchler von der Universität Wien im »Kurier« (11. April 1998) über das Desinteresse an Forschung in Österreich: »Wir werden ein Dritte-Welt-Land in der Forschung werden.«

Jetzt kommt aber das Eigentliche meiner These über die Gründe der Implosion der Intelligenz in Österreich. Für die Welle der Emigration vor 1945 waren die reaktionäre Kulturpolitik, der Nationalsozialismus, der Ständestaat die Gründe. Diese barbarische Politik führte zur Emigration und zum Exil der Intelligenz. Nach 1945 wurde erstens die Rückkehr dieser Intelligenz verhindert und zweitens herrschte in gemilderter Form dieselbe antirationale Ideologie wie vor 1945 – an den Universitäten, in den Zeitungen, Akademien und anderen kulturellen Institutionen. Neben der Verbannung ins geografische Exil gab es wie vor 1945 eine Verbannung ins innere Exil. Viele Intellektuelle und Künstler wurden totgeschwiegen wie Günter Anders, der unerkannt in Wien lebte, oder fanden sich deplaciert wie der kritische Katholik und Historiker Friedrich Heer als Chefdramaturg am Burgtheater statt als Professor für Geschichte an der Universität Wien. Dieser Zwang zum inneren Exil wurde durch die beginnende Kommerzialisierung des Geisteslebens anfangs der 1960er Jahre vehement verschärft. Neben die reaktionäre Ideologie, die 1945 überlebt hatte, trat der reaktionäre massenmediale Markt.

Ein Beispiel: Der Leiter von »Wort in der Zeit«, einer angesehenen Literaturzeitschrift, Dr. Gerhard Fritsch, musste zurücktreten und verlor seinen Posten, als er es 1964 gewagt hatte, Mitglieder der Wiener Gruppe – von H. C. Artmann bis Ernst Jandl – abzudrucken. Zwangsemigration war nach 1945 nicht mehr notwendig, weil die Intelligenz nicht mehr von der Vernichtung bedroht war. Die neue Form der Unterdrückung hieß Publikationsverbot, keine Stipendien, keine Positionen. So wurde zusätzlich zum Verbot der Rückkehr der Intelligenz eine zweite Vertreibung praktiziert, die ebenfalls zu einer Welle der Auswanderung oder inneren Emigration führte.

Der Markt, der massenmediale Populismus und der Quotendruck haben zu neuen Formen der Repression in der Demokratie geführt. Demokratie wurde fälschlicherweise nicht als Schutz und Förderung der Minderheiten verstanden, sondern als Förderung des Geschmacks der Massen. Die Ausstellung im Nachbarhaus, dem 35 Grazer Stadtmuseum, die der Zeit vor 1945 gewidmet ist und den Untertitel »Anpassung – Emigration – Widerstand« trägt, könnte man genauso gut über die heutige Zeit machen, wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Was machen die Künstler heute? Sie passen sich an den Markt an oder gehen ins Exil, ins innere oder äußere. Wie kann man Widerstand leisten? Das sind tatsächlich die Debatten, die heute die Künstler führen, aber heute unter der Bedingung des Marktes und nicht unter den Bedingungen der politischen Ideologie. Was damals war, dass die Stimme der Vernunft leise sprach, war auf die politische Ideologie zurückzuführen. Heute spricht die Vernunft leise, weil der Markt dominiert. Heute gibt es andere Instanzen, die zu dem gleichen Verhalten führen – man geht unter oder passt sich an oder emigriert tatsächlich ins Ausland, wie ich es an den Mathematikern und bei vielen Kulturleuten gezeigt habe, oder man leistet Widerstand. Und dieser Widerstand unterscheidet sich vom politischen Widerstand. Es ist nämlich ein Widerstand gegen die Massenmedien und den Markt, die neuen sozialen Instanzen, die den gleichen Effekt haben wie früher die Ideologien. Das ist meine These. Das kann man heute in Graz sehr gut nachvollziehen: unser Symposium in der Neuen Galerie heißt »Unsichtbare Intelligenz«, und ohne dass wir es wussten, gibt es im Stadtmuseum nebenan eine Ausstellung, die heißt gleichfalls »Unsichtbar«. Sie beschäftigt sich mit Anpassung, Emigration und Widerstand in der Steiermark in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Und es ist kein Zufall, sondern es ist tatsächlich so, dass die Unsichtbarmachung, die Unterdrückung der kritischen Intelligenz, heute noch genauso stattfindet, aber nicht mehr aus politischen Gründen, sondern aus Gründen des Marktes und aus Gründen der Massenmedien.

Also was in der NS-Herrschaft oder im Ständestaat Verfolgung und Widerstand war, aus politischen Gründen, und dazu geführt hat, wie der Titel dieser Ausstellung im Nachbarhaus heißt, dass Intellektuelle und KünsterInnen »unsichtbar« geworden sind, genau das passiert heute unter dem Druck des Marktes und der Massenmedien.

Klarerweise schon mit gewaltigen Unterschieden. Der Unterschied ist der, dass wir eben nicht vom Tod bedroht sind, d.h. bei der politischen Ideologie ist eine Abweichung, eine Kritik, lebensbedrohlich. Heute ist der Vorteil der: Wir sind nicht unmittelbar lebensbedroht oder zur Zwangsemigration verurteilt, wenn wir kritisch sind. Die Herrschaft und die Hegemonie der Unterhaltung sind nicht lebensbedrohlich, aber sie sind subtiler. Sie tun so, als würde die Hegemonie nicht existieren. Das ist der entscheidende Unterschied. Deshalb habe ich auch den Titel vorgeschlagen, um diese Unterdrückung von Intelligenz unter der Hegemonie der Unterhaltung als neues Zeichen der Herrschaft des Marktes und der Massenmedien sichtbar zu machen.

Ich betone noch einmal: Die Unsichtbarkeit der Intelligenz in der Hegemonie in der massenmedialen Unterhaltung ist nicht lebensbedrohend, aber sie hat einen großen Nachteil – nämlich dass diese Unterdrückung nicht mehr erkennbar ist, wie sie früher erkennbar war. Wir haben heute eine gewissermaßen sanfte Unterdrückung, die aber noch viel wirksamer ist als die autoritäre ideologische Unterdrückung von früher. Für mich ist sozusagen dieses Unsichtbarmachen der Intelligenz nicht ein Problem für die Kultur allein, sondern ein Problem für die Gesellschaft insgesamt. Ich baue Max Webers Effizienzkriterium in das Kompetenzkriterium um.

Wenn jemand Wissen hat und eine Entscheidung treffen muss, dann kann er aufgrund seines Wissens die Entscheidung sachlich und rational begründen. Darauf kann man eine wissensbasierte, demokratische Gesellschaft aufbauen. Wenn jemand über kein Wissen verfügt, dann kann er Entscheidungen nur irrational treffen, er kann sie nicht begründen, er hat ja kein Wissen. Er kann nur sagen: »Ich will das so.« Er kann die Entscheidung nur autoritär und irrational durchsetzen. Und deswegen, weil das immer mehr zunimmt, durch den Abbau von Kompetenz und Wissen, durch die Unterdrückung und Unsichtbarmachung von Intelligenz, haben wir eine Krise der Kompetenz. Diese führt dazu, dass wir schon lange die Demokratie verlassen haben, und viele Autoren sprechen daher von einer »Postdemokratie«, oder die utopischen Philosophen sprechen dann von einer Demokratie, die kommen wird.7 Ich habe gedacht: Wir leben schon längst in einer Demokratie?

1 Siehe: Weibel, Peter/Stadler, Friedrich (Hg.): The Cultural Exodus from Austria. Vertreibung der Vernunft. Springer, Wien 1995.
2 Karl Böhm, Ich erinnere mich ganz genau, Molden, Wien 1974, S. 70.
3 Zitat Oskar Helmer (1887-1963), sozialdemokratischer Politiker und langjähriger Innenminister Österreichs in der Nachkriegszeit.
4 Knight, Robert: Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen. Überarb. Neuaufl. Wien 2000.
5 Palm, Kurt: Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht und Österreich. Wien/München 1983.
6 Später von Karl Sigmund als CD herausgegeben. Siehe »Kurt Gödel: Ich habe manchmal Heimweh nach Wien«, gelesen von Wolfgang Rupert Muhr, Wien 2007.
7 Siehe:

(C) Die Autoren changed: 12. Februar 2019